Raya Badraun

Journalistin

Die Show vor der Show

Text und Bild: Raya Badraun, London

Im Olympiapark von London gibt es zwei Rundbahnen. Da ist diejenige, die alle kennen. Sie ist das Herz des Stadions, hier werden in diesen Tagen die Weltmeister gemacht – und gefeiert. Doch es gibt noch eine zweite Anlage. Ein bisschen versteckt liegt sie im Schatten der grossen Schwester. Hier wärmen sich die Athleten vor ihrem Wettkampf auf oder absolvieren ihr Training. Wirklich für sich sind sie dabei nicht. Wie im Zoo stehen die Zuschauer am Geländer und schauen auf die Sportler hinunter, die im Kreis rennen oder sich dehnen. Und da sind sogar Kameras aufgebaut. Um die Sportler zu erkennen – immerhin sind sie hier für einmal nicht angeschrieben – haben sich manche ein Blatt mit Porträtbildern ausgedruckt und ans Geländer geklebt. Immer wieder zückt ein Fotograf die Kamera. «Hast du gesehen? Das war Dafne Schippers.» Oder: «Dieses Gesicht muss ich dann noch googlen.» Nur in den weissen Zelten, die in der Mitte der Leichtathletikanlage aufgebaut wurden, sind die Athleten ganz für sich.

Dass an diesem späten Nachmittag so viele Zuschauer da sind, liegt nicht alleine daran, dass die Wettkämpfe im Olympiastadion von London noch nicht begonnen haben. Denn das Geschehen auf diesem Nebenschauplatz hat seinen ganz eigenen Reiz. Es ist fast so, als würde man die Athleten in ihrer freien Wildbahn beobachten. Da bleibt man gerne ein bisschen länger stehen. Und wie bei einem Löwen, den man auf einer Safari das erste Mal von nahem sieht, denkt man nun: «Okay. Der sieht im Fernseher aber viel grösser aus.» Es gibt natürlich auch einiges zu sehen – viel mehr noch als im Stadion, wo ein Wettkampf dem nächsten folgt.

Der Sportplatz ist während der WM wie ein Wimmelbild, das aus Hunderten von kleinen Geschichten zusammengefügt wurde. Man kann sich fast nicht sattsehen. Da ist etwa dieser Brasilianer, der mit grossen Kopfhörern über die Bahn rennt. Plötzlich bewegt er seine Arme, als würde er ein Schlagzeugsolo spielen. Oder diese junge Athletin. An der Seite eines Mannes läuft sie auf den Platz. Auf ihrer Jacke steht USA, auf seiner Bermuda. Vorsichtig richtet sie ihre blonden Locken, die an der Spitze blau sind. Ein bisschen nervös wirkt sie in diesem Moment. Dann, plötzlich, hängt sie sich bei ihm ein. Zusammen schlendern sie zur Hochsprungmatte, wo sie sich an die Sonne legen.

Diese Szenerie hat ein bisschen etwas von einem Sporttag in der Oberstufe. Dazu würden auch die jamaikanischen Sprinter passen. Während die anderen Athleten ihre Runden drehen, laufen sie mit einer Tüte Chips über die Tartanbahn. «Die brauchen eben viele Kalorien», scherzt einer der Fotografen – und drückt auf den Auslöser seiner Kamera.

Eine Stunden später ist das Olympiastadion fast bis auf den letzten Platz besetzt. Im Vorlauf über 200 Meter sprinten die Athleten über die Tartanbahn. Und da sind sie wieder das, was sie schon immer waren: aussergewöhnliche Menschen, denen auch ein paar Chips nichts anhaben können.

Diese Kolumne erschien während der Leichtathletik-WM in London im St. Galler Tagblatt.

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