Raya Badraun

Journalistin

Gegenentwurf zur Ski-WM

Die Klappen öffnen sich mit einem leisen Geräusch. Ungestüm rennen die Pferde los, über das Eis, durch den knirschenden Schnee. Es ist das Sprintrennen am White Turf in St. Moritz. 1300 Meter haben die Jockeys und ihre Pferde vor sich. Es geht für sie um 18000 Franken Preisgeld. Auch für mich steht etwas auf dem Spiel. Vier Franken habe ich auf Filou gesetzt. Er ist der Favorit, das haben alle gesagt. Mehr wagte ich dennoch nicht. Von der aktuellen Ski-WM weiss ich, wie viel auf der Strecke noch passieren kann. Stürze. Verletzungen. Überraschungen. In beiden Sportarten geht es schliesslich um hohes Tempo und der ewigen Suche nach dem Limit. Das ist jedoch schon die einzige Gemeinsamkeit.

Der See ist momentan ein Zufluchtsort. Hier treffen sich die Menschen, die St. Moritz normalerweise zu dem machen, was das Dorf eigentlich ist: eine Hochburg der Dekadenz, wo Kaviar gegessen und Champagner getrunken wird. Doch zurzeit dominiert im Tal der Skisport. Seine Anhänger sind zahlenmässig deutlich überlegen. Sie nehmen nicht nur den Berg ein, sondern auch die Strassen für ihre ausufernden Siegesfeste. Also bleibt den Damen und Herren der feinen Gesellschaft nur noch der See und ihr traditionelles White Turf. Der Anlass ist ein krasser Gegenentwurf zur lauten und bunten WM, an der vom Skidress bis zur Werbung alles nach Aufmerksamkeit schreit. Auf dem See hingegen empfängt mich die Ruhe. Menschenmassen gibt es hier keine, niemand steht sich auf den Füssen. Für die erlesenen Zuschauer wurden gleich neben der Rennbahn weisse Zelte aufgebaut. Davor stehen Tische mit weissen Tüchern, auf den Stühlen liegen Wolldecken und Schaffelle bereit. Eine Band spielt unaufdringliche Musik im Hintergrund. Langsam bewegen sich die Menschen über den See, der an diesem Nachmittag mehr Bühne ist als Sportstätte. Frau präsentiert natürlich ihren Pelz und die neuste Chanel. Nur ganz selten werden die Schritte schneller, lösen sich die geschminkten Lippen vom Champagnerglas. Dann laufen die Zuschauer zur Rennbahn. Schliesslich wollen sie wissen, ob sie richtig getippt haben.

Die Pferde rennen dem Ziel entgegen. Filou ist vorne, doch er hat einen hartnäckigen Verfolger. Noch wenige Meter. Ich halte den Wettzettel in der Hand. Glaube. Hoffe. Bete. Dann erreichen die ersten Pferde das Ziel. «Filou, Filou, Filou», ruft der Speaker. Ich will in die Luft springen, jubeln und mich freuen. Doch das tut man in dieser Gesellschaft nicht. Die Zuschauer und Zuschauerinnen klatschen nur verhalten in die Hände. Drei Stunden später gewinnt Beat Feuz hoch oben auf dem Berg eine WM-Goldmedaille. Es geht für keinen der Zuschauer um Geld. Doch jeder freut sich mehr über den Schweizer Sieg – auch ich.

Diese Kolumne erschien während der Ski-WM in St. Moritz im St. Galler Tagblatt.

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